O. Kühschelm: Zur Genealogie nationaler Ökonomien in Österreich und der Schweiz

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Titel
Einkaufen als nationale Verpflichtung. Zur Genealogie nationaler Ökonomien in Österreich und der Schweiz, 1920–1980


Autor(en)
Kühschelm, Oliver
Reihe
Werbung – Konsum – Geschichte
Erschienen
Berlin 2022: De Gruyter Oldenbourg
Anzahl Seiten
636 S.
Preis
€ 119,95
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Manuel Schramm, Institut für Europäische Studien und Geschichtswissenschaften, Technische Universität Chemnitz

Obwohl die deutschsprachige Konsumgeschichte ein mittlerweile durchaus beachtliches Niveau erreicht hat1, ist die Nationalisierung des Konsums ein Bereich, der häufig doch unterbelichtet bleibt.2 Einige Aufmerksamkeit haben die "Volksprodukte" und die Autarkiepolitik des Nationalsozialismus gefunden.3 Dass diese Phänomene aber in einen breiteren internationalen Kontext von Nationalisierungsbestrebungen im 20. Jahrhundert gehören, dürfte nur den Wenigsten bekannt sein.4 Umso begrüßenswerter ist es, dass der österreichische Historiker Oliver Kühschelm nun diese Forschungslücke füllt mit seiner Habilitationsschrift über die Schweizerwoche (ab 1917) und die Kampagne "Kauft österreichische Waren" (ab 1927). Es handelte sich dabei um zwei "Buy National"-Kampagnen nach britischem Vorbild, die versuchten, inländische Konsument:innen zum Kauf einheimischer Produkte zu animieren. Kühschelms Ziel besteht darin, die "Genealogie nationaler Ökonomie" zu untersuchen, wobei er unter nationaler Ökonomie (im Unterschied zur Nationalökonomie) ein Projekt versteht, das an die Landsleute moralisierende Appelle richtete, entweder patriotisch zu konsumieren oder zu sparen (S. 24). In theoretischer und methodischer Hinsicht knüpft er dabei sowohl an Benedict Andersons konstruktivistischen Nationsbegriff an als auch an Foucaults Diskursanalyse und Nietzsches Genealogiebegriff.

Das Buch ist in drei Abschnitte gegliedert, wovon sich der erste den Akteur:innen widmet, sowohl den beteiligten Organisationen als auch den Expert:innen, wie Ökonom:innen, Reklamefachleuten und Einzelhändler:innen. Rechtlich gesehen waren sowohl der Schweizerwoche-Verband als auch die Arbeitsgemeinschaft "Kauft österreichische Waren" Vereine. Während aber in der Schweizer Kampagne tatsächlich der Geist des männlich geprägten bürgerlichen Assoziationswesens vorherrschte, war der österreichische Gegenpart von parastaatlichen Körperschaften wie der Handelskammer dominiert und stand somit eher in einer zentralistisch-korporatistischen Tradition. Interessant ist, dass der Einfluss von professionellen Reklamefachleuten auf die Kampagnen, die im Kern ja Werbekampagnen für nationale Produkte darstellten, erstaunlich gering war. Zum Teil lag dies daran, dass die Organisator:innen ihre Arbeit eher als eine pädagogische verstanden und sich von der klassischen Werbung zu distanzieren versuchten.

Der zweite Teil untersucht die Diskurse und Inszenierungen der beiden Kampagnen. Wirtschaft wurde häufig als Kreislauf dargestellt, die negative Handelsbilanz als "Loch in der Tasche", durch das Wohlstand abfließt. Solche Diskurse knüpften vor allem in Österreich an den Kameralismus des 18. Jahrhunderts an, dessen Wirkungsgeschichte der Autor in einem eigenen, sehr interessanten Kapitel diskutiert. Die Organisator:innen der "Buy National"-Kampagnen waren sich der Spannung zwischen notwendiger außenwirtschaftlicher Verflechtung und gefordertem patriotischen Konsum durchaus bewusst und distanzierten sich von Autarkiebestrebungen. Insbesondere in Österreich bezweifelten viele Wirtschaftswissenschaftler:innen die ökonomische Lebensfähigkeit des nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Kleinstaates.

Der dritte Teil setzt die Untersuchung der Diskurse und Inszenierungen fort, widmet sich aber stärker den Adressat:innen der Kommunikation. So werden die Kampagnen beispielsweise im Spiegel des Schweizer Satiremagazins "Nebelspalter" und eines österreichischen Lehrlingsmagazins der Nachkriegszeit diskutiert. Allerdings geben die verwendeten Quellen eher Auskunft über die impliziten Adressat:innen als über tatsächliche Rezeptionsprozesse durch Konsument:innen. Der Erfolg der Kampagnen lässt sich auf dieser Grundlage schwer abschätzen. Aufschlussreich sind die Ausführungen gleichwohl: Die österreichischen Plakate der Zwischenkriegszeit fokussierten viel stärker auf die Arbeitslosigkeit als diejenigen aus der Schweiz, die mit Hilfe von Nationalsymbolen die Kaufentscheidung als Votum der Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft und nicht als Akt der Solidarität mit notleidenden Mitbürger:innen inszenierten. Der Epilog zeichnet den Unterschied zwischen dem heutigen, auf das Image einer Nation im Ausland zielende "Nation Branding" und den untersuchten "Buy National"-Kampagnen nach, die primär nach innen gerichtet waren. Das "Nation Branding" war Teil der neoliberalen Wende der 1990er-Jahre, die mittlerweile selbst wieder Geschichte ist. Ob das Projekt einer nationalen Ökonomie in der Gegenwart eine neue Renaissance erfährt, oder ob seine Zeit längst abgelaufen ist und es nur noch nachhallt, bleibt am Ende offen.

Ein paar kleinere Kritikpunkte seien abschließend genannt: Der Schreibstil könnte etwas flüssiger sein. Die Arbeit ist in theoretischer Hinsicht gut informiert, aber bisweilen scheint der Autor mit Kanonen auf Spatzen zu schießen, etwa wenn er Bruno Latours Modernebegriff für die Interpretation von Ausstellungen bemüht (S. 466f.). Manchmal überzieht er in seiner Interpretation, insbesondere was die notorisch schwer zu fassende Rezeption angeht. Ob die im patriotischen Sinn verfassten Schüleraufsätze tatsächlich mehr als nur Fassade sind, wie Kühschelm argumentiert (S. 506), lässt sich aus den verfügbaren Quellen nicht mit Gewissheit schließen. Ebenfalls gewagt erscheint es, aufgrund der "breiten Involvierung aller möglichen Institutionen und Akteur∗innen" eine spezifische Wirkung auf die Konsument:innen anzunehmen (S. 553). Trotz dieser Einwände überwiegt aber bei Weitem der positive Eindruck: Insgesamt handelt es sich um eine gründlich recherchierte und theoretisch sehr reflektierte Studie, die eine wichtige Forschungslücke schließt.

Anmerkungen:
1 Heinz-Gerhard Haupt / Claudius Torp (Hrsg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch, Frankfurt am Main 2009; Christian Kleinschmidt / Jan Logemann (Hrsg.), Konsum im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 2021 (Handbücher zur Wirtschaftsgeschichte).
2 Als Ausnahme: Oliver Kühschelm / Franz Eder / Hannes Siegrist (Hrsg.), Konsum und Nation. Zur Geschichte nationalisierender Inszenierungen in der Produktkommunikation, Bielefeld 2012.
3 Wolfgang König, Volkswagen, Volksempfänger, Volksgemeinschaft: "Volksprodukte" im Dritten Reich. Vom Scheitern einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft, Paderborn 2004; Gustavo Corni / Horst Gies, Brot, Butter, Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997.
4 Dana Frank, Buy American. The untold story of economic nationalism, Boston/Mass. 1999; David M. Higgins / Brian D. Varian, Britainʼs Empire Marketing Board and the failure of soft trade policy, in: European Review of Ecoonomic History 25 (2021), S. 780–805.

Redaktion
Veröffentlicht am
25.10.2022
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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